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Kleopatra
.| Nun sitze ich hier mit den ungeliebten Kollegen, alle in Anzug und Krawatte, geschniegelt und gestriegelt, ich wie immer in Jeans und T-Shirt, unrasiert und ungekämmt. Angestrengt versuche ich dem Vortrag der diplomierten und promovierten Projektleiterin zu folgen. Das Thema ist eine brutale und gnadenlose Herausforderung: “Möglichkeiten und Grenzen der Steigerung der gravimetrischen Energiedichte von Lithium-Polymer-Akkumulatoren in Abhängigkeit der Zellgeometrie” – Ich habe nicht die geringste Ahnung von der Materie, weiß wirklich nicht, was ich hier soll. Ich arbeite in der Marketingabteilung und gestalte nur die Website. Ahnungslosigkeit und Desinteresse verursachen daher sehr schnell eine Verschiebung meines Aufmerksamkeitsfokus hin zu den körperlichen Reizen der Vortragenden. Sie ist unübersehbar der lebende Beweis, dass aphroditengleiche Schönheit und überragende Intelligenz sich nicht ausschließen. So wird nahezu die vollständige Kapazität meines Hirns für die optische Wahrnehmung der einzigen weiblichen Person in diesem Raum und für intensive erotische Phantasien mit ebendiesem Geschöpf in Anspruch genommen. Der Rest reicht gerade noch für gelegentliches Kopfnicken, um Aufmerksamkeit und Interesse zu simulieren sowie für die körperlichen Grundfunktionen, wie Atmen und Blinzeln zuzüglich einer sich massiv entwickelnden Erregung.
.| Elegant und erhaben schreitet sie wie Kleopatra auf der höchsten Ebene der Prunktreppe ihres Palastes auf und ab und richtet dabei ihre Worte der Regentschaft an die Gelehrten und an das niedere und ungebildete Volk zu ihren Füßen. Da ich der letztgenannten Gruppe angehöre, hat das zwei Effekte, einerseits darf ich aufgrund meiner statusbedingt äußerst geringen Bildung mit nur einem Lendenschurz bekleidet unter größter körperlicher Anstrengung die Steine vom Nil zur Baustelle der neuen Pyramide bewegen und andererseits ist es mir als dummer Mensch verwehrt der Kaiserin neue Kleider zu sehen – was ich natürlich nicht wirklich als Nachteil empfinde. Nicht nur das, meine Phantasie schlägt geradezu Purzelbäume. Ich sehe sie in ihrer vollen und reinen Pracht, so wie Atum, die ägyptische Gottheit der Schöpfung, sie mit besonders viel Hingabe und Liebe zum Detail erschaffen hat. Ein wahres Meisterstück, das jedem Pornofilm mit ihr in der Hauptrolle das Prädikat “Besonders wertvoll” einbrächte. Nicht nur freudig erregt erwarte ich, dass ihre Hoheit mit dem Finger auf mich zeigt, mich mit demselben Finger zu sich zitiert, ich ehrfürchtig, glückselig und unendlich dankbar die Stufen des Palastes hinaufsteige, sie ihre Pforte für mich öffnet und mir den ersehnten Einlass gewährt. Plötzlich merke ich, dass scheinbar doch noch Hirnregionen imstande sind, Kapazitäten für die Entwicklung von unerwünschten Störaktionen freisetzen. Es gerät ägyptischer Wüstensand ins Getriebe meiner Phantasien. Kleopatra zeigt mit dem Finger auf das untergebene Volk und zitiert einen der männlichen Vertreter zu sich. Doch bin nicht ich es, den sie auserwählt. Es ist ein in edle Tücher gehüllter Gelehrter. Nun, auch vor über zweitausend Jahren galt es eben schon, dass die Kleider die Leute machen. Bevor dieser Gelehrte dem Ruf seiner Herrscherin folgt, nimmt er einen Eimer Wasser und schüttet ihn mir über meinen schwitzenden Körper.
.| Das kalte Wasser bewirkt, dass nicht nur mein Lendenschurz wieder schlaff am Leibe hängt. Ich werde jäh aus meinem Traum gerissen, merke, dass ich mir das Wasserglas über den Schoß geschüttet habe und dass der Vortrag gerade sein Ende gefunden hat. Die Schlipsträger schauen mich mitleidig und herablassend an und verlassen den Raum. Bis auf einer, der sich angeregt mit Kleopatra unterhält. Und im Gehen sehe ich noch, wie die beiden in ihr Büro gehen, sie voran und er hinter ihr mit aufgerichteter Nase.
Eddie Mohonester
03/2025
- Text: Eddie Mohonester / Zuhause, März 2025 / urheberrechtlich geschützt