Lesezeit der Kurzgeschichte ca. 8 Minuten
Ins Café oder zum Bäcker
.| Ich mag es ja, wenn die Dinge ihre Ordnung haben. Als wir vor über 25 Jahren aufs Land in eine kleine Gemeinde am Rande der Nordeifel, genauer gesagt in ein abseits gelegenes Kuhdorf jener Gemeinde zogen, gab es dort die Bäckerei und das Café Kubert. Ein paar Jahre später kam dann eine Filiale der Bäckerei Kalmut hinzu. Als sich dann noch in unserem Dorf eine Filiale des Bäckers Kaminat ansiedelte, war klar, die Bäcker in unserer Gemeinde tragen alle Namen, die mit K beginnen. Ich nahm an, dass es eine diesbezügliche Gemeindeverordnung gab. Macht ja auch irgendwie Sinn. Krustenbrot, Körnerbrötchen, Käsekuchen, Kaffee – alles Wörter, die auf die Bäcker und ihre Cafés hinweisen. Croissant passt auch dazu – also fast.
.| Diese Ordnung hat nun unlängst eine erdbebengleiche Erschütterung erfahren. In den Vorräumen von Edeka- und Rewe-Markt haben sich die Bäcker Novit und Tross breitgemacht. Dass ziemlich genau zur gleichen Zeit ein neuer Bürgermeister gewählt wurde und die Gemeinde seitdem nun von einem SPD-Mitglied regiert wird, mag man als Zufall bezeichnen. Ich tue es nicht. Aber ich schätze nun die Erweiterung des Bäckereiangebots und an meiner Ordnung hat sich sowieso nichts geändert. Ich fahre nach wie vor montags bis freitags ins Örtchen, um dort gemütlich einen Kaffee zu trinken und ein paar Seiten in einem guten Buch zu lesen.
.| Ins Café oder zum Bäcker? Nun, im Café Kubert in der Hauptstraße sitzt man gemütlich auf gepolsterten Stühlen oder Bänken. Die Tische sind sauber und es liegen Tischdecken darauf. Ein Väschen mit einer Plastikblume suggeriert heimische Wohnlichkeit. Der Kaffee wird in reinweißem Porzellan mit dezentem Zierrand von einer freundlichen Bedienung serviert, die Milch ist in einem dazu passenden Kännchen und für den Zucker steht ein Süßer Heinrich bereit. Selbst wenn das Café gutbesucht ist, herrscht meistens ein sehr niedriges Geräuschniveau. Die Menschen reden mit gedämpfter Stimme oder flüstern gar. Das Café ist etwas in die Jahre gekommen – das Publikum auch.
.| Beim Bäcker mit Cafébetrieb ist das Mobiliar nüchterner. Tischdecken gibt es nicht. Die Tische sind oft noch voll Krümel und Kaffeeflecken von den vorherigen Gästen. Man muss sich anstellen und seinen Kaffee und was man sonst noch möchte selbst an der Theke abholen und sich einreihen zwischen diejenigen, die ihren Bedarf an Brot und Brötchen decken und diejenigen, die sich mit belegten Brötchen und Kaffee to go versorgen. Leider ist es dadurch insgesamt recht unruhig.
.| Die Bäcker in den Supermärkten locken mit einem entscheidenden Vorteil: die Parkplatzsituation. Viele freie Parkplätze ohne Zeitlimit und Parkgebühren. Wenn dann noch ein Außenbereich vorhanden ist, wie beim Bäcker Novit im Edeka-Markt, dann fällt die Entscheidung bei schönem Wetter natürlich leicht.
.| So sitze ich da, trinke Kaffee, esse mein Croissant, genieße Wetter und Leben. Und ab und zu schaue ich von meinem mitgebrachten Buch auf und beobachte die Menschen bei Ihren Parkkünsten. Dabei vergleiche ich immer die katastrophal abgestellten Fahrzeuge, wie die dicken Mercedes rücksichtsloser Egoisten, die BMW der intellektuell limitierten Angeber, die Möchtegern-SUVs der alten Knacker und die ungewaschenen Kleinwagen des weiblichen Geschlechts mit dem absolut akkurat eingeparkten und blitzsauberen Opel Diesel Familienkombi, den ich mein Eigen nennen darf. Manchmal warte ich bei besonders kreativ abgestellten Fahrzeugen, bis die Fahrer bzw. Fahrerinnen das Auto verlassen, um zu sehen, wer seinen künstlerischen Ambitionen Ausdruck zu verleihen sucht. Doch ich lasse mich in der Regel nur kurz ablenken, mein Unterhaltungsschwerpunkt zum Kaffee liegt auf dem mitgebrachten Buch. Ich genieße es, darin zu versinken und die Welt um mich herum für eine kurze Zeit zu vergessen. Die Lektüre ist zugleich der kaum zu übersehende und unmissverständliche Hinweis an alle kommunikationsbedürftigen Mitmenschen, die zu ihrem Heißgetränk einen Gesprächspartner suchen, dass ich unter keinen Umständen angequatscht werden will.
.| Doch leider gibt es Ablenkungen, die ich weder will, noch schwerlich verhindern kann. Aufdringliche Gespräche am Nachbartisch gehören dazu. Wie bereits gesagt, das akustische Niveau ist beim Bäcker per se höher und im Außenbereich kommen dann noch ein paar Dezibel on top. Und so konnte ich mich unlängst nicht erwehren, unfreiwilliger Zeuge des folgenden Gesprächs zu werden. Bereits nach sehr wenigen Sätzen war das Verhältnis der beiden Frauen offensichtlich. Die eine war Mitte-Ende Fünfzig und die andere geschätzt so an die Dreißig. Das Gespräch ging schon eine Weile und die Stimmung war mittlerweile gereizt, weshalb sich die Lautstärke erhöhte und so meine Aufmerksamkeit weg vom Buch lenkte.
“So darfst du nicht mit ihm reden!”
“Was soll das heißen, ich darf so nicht mit ihm reden? Er hat doch angefangen. Dein geliebter Sohn hat gesagt, ich sei herrschsüchtig und kratzbürstig und überhaupt eine nervige Zicke.”
“Er war einfach aufgebracht. Du hast ihn provoziert.”
“Provoziert! Ich? Wir waren gestern Abend mit Anja und Marco verabredet und was macht er, er geht mit Kollegen nach der Arbeit in die Kneipe, auf ein ‘schnelles Feierabendbierchen’, wie er es nennt, und versumpft dann komplett, kommt erst nach neun Uhr sturzbetrunken nach Hause. War ich aufgebracht? Stinksauer war ich! Ich habe unsere Verabredung absagen müssen. Ich habe sogar für ihn gelogen und habe erzählt, dass ich mich nicht wohlgefühlt habe. Und natürlich habe ich meiner Wut Luft gemacht. Ich hatte das gottverdammte Recht dazu!”
Mütter sind nicht gerade der Inbegriff von Objektivität, wenn es um ihre Söhne geht, insbesondere dann nicht, wenn sie Thema von Gesprächen mit den Schwiegertöchtern sind. Insofern ging es dann ohne Unterbrechung leidenschaftlich und für die Nachbartische gut vernehmbar weiter. Ein heftiges Hin und Her, wie in einem Grand Slam Finale mit harten Aufschlägen und blitzschnellen Returns. Die Eine nimmt ihren Sohnemann vorbehaltlos in Schutz und die Andere versucht ihr klarzumachen, dass ihr Sonnenschein ein rücksichtsloser Egoist ist. Mercedes-Fahrer, nahm ich an. Ich hatte meinen Kaffee nahezu ausgetrunken, hatte aber nicht mal eine ganze Seite gelesen. Dafür wusste ich dann alles über diese öffentliche Ehe.
Ich weiß nun, dass es einen unerfüllten Kinderwunsch gibt, dass sie zu viel wiegt – was sie wirklich nur unschwer verheimlichen kann, er sie regelmäßig und undiplomatisch darauf hinweist, dass er Fußball mehr liebt als sie und zu gerne ein oder auch mehrere Bierchen trinkt, dass sie gerne mal etwas unternehmen und in den Urlaub fahren würde, und so weiter und so fort.
.| Ob es der Versuch war, den ultimativen Argumentationsverstärker zu finden oder einfach nur eine Verzweiflungstat oder die feste Absicht der ungeliebten Schwiegermutter ein rhetorisches Brotmesser in die Brust zu rammen und so lange am Griff zu rütteln bis dieser abbricht, weiß ich nicht. Laut, viel zu laut, für alle auf der Caféterrasse und auch für alle auf dem weitläufigen Parkplatz gut zu verstehen, brüllte sie: “Weißt Du was! Ich habe ein Verhältnis mit einem anderen Mann! Ich halte es einfach nicht mehr aus! Und dein geliebter Sohn ist schuld daran. Kapierst du das?”
Tat sie nicht. Und wie per Daumendruck auf die Mute-Taste der Fernbedienung stellte sich unmittelbar eine weitreichende Grabesstille ein. Absolut nichts war mehr zu hören. – Herrlich! Und ich fühlte unmittelbar, dass dieser Moment etwas ganz Besonderes war. Es war die Vereinigung der Vorzüge eines Bäckers mit Cafébetrieb mit der Ruhe eines gediegenen und altmodischen Cafés. Diesen Eindruck wollte ich in jedem Fall bewahren. So handelte ich spontan und mit flinken Bewegungen. Ich verließ die Szenerie, stellte schnell noch mein Tablett mit dem restlichen Schluck Kaffee in das dafür vorgesehene Regal und lief rasch zu meinem Opel. Schnell stieg ich ein und schloss die Tür und erreichte so die schallschützende Ruhezone im Inneren des Fahrzeugs, noch bevor die beiden Frauen die nächste Eskalationsstufe erreichten. Im Vorbeifahren sah ich nur noch, wie die mittlerweile stehende Schwiegermutter mit heruntergebeugtem Oberkörper, hochrotem Kopf und geballten Fäusten ihre Schwiegertochter anschrie.
.| Ich weiß nicht, wie viele Akte dieses Schauspiel noch hatte und welches Ende es nahm, ich denke aber, dass es nach dem Schlussvorhang keinen Applaus gab und dass keine Ruhe auf der Terrasse eingekehrt ist. Denn alle anderen haben bestimmt parteiergreifend für die eine oder die andere Position auf das Heftigste über das unfreiwillig Miterlebte diskutiert – über die beiden Frauen, deren Gespräch, die geschilderte und offensichtlich gescheiterte Ehe, die Ehe im Allgemeinen und wahrscheinlich auch über die eigene Ehe im Besonderen.
.| Ehrlich – das muss ich nicht haben, ich bin glücklich geschieden.
Eddie Mohonester
10/2024
- Text: Eddie Mohonester / Zuhause, Oktober 2025 / urheberrechtlich geschützt